De legibus-Blog

10. Oktober 2010

Raubkopieren ist doch gar nicht strafbar

Thomas Fuchs

Die mit öffentlichen Mitteln der Filmförderungsanstalt unterstützte „Aufklärungskampagne“ der deutschen Filmbranche tönt seit 2003, Raubkopierer seien Verbrecher. Dies wird uns „Verbrauchern“ zum Antrainieren eines – im Gegenschluss offenbar fehlenden – Unrechtsbewusstseins regelmäßig im Kino und zu Hause beim Abspielen von Filmen auf DVD eingetrichtert.

Seinen sachlichen Gehalt soll diese Behauptung im Vergehen der unerlaubten Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke nach § 106 Abs. 1 UrhG haben. Dessen Wortlaut wird nicht nur von der Filmbranche wie folgt kolportiert:

„Wer in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk oder eine Bearbeitung oder Umgestaltung eines Werkes vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Das ist, wie der aufmerksame Leser unserer „Ist doch gar nicht strafbar“-Reihe (bislang zur fahrlässigen Tötung und zur Untreue) ahnen wird, falsch.

Am 1. Januar 1966 trat nach den §§ 106, 143 Abs. 2 des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9. September 1965 (BGBl. I 1965 S. 1273—1294) folgende Vorschrift in Kraft:

„Wer in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen vorsätzlich ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk oder eine Bearbeitung oder Umgestaltung eines Werkes vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft.“

Zum 1. April 1970 wurde die Rechtsfolge dieser Vorschrift durch die Artt. 3, 4, 5 Abs. 4, 105 Nr. 2 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 1969 S. 645—682) abgeändert. Die Vorschriften des zweiten Abschnitts des Gesetzes vom 25. Juni 1969 gelten nach den Artt. 3, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 für die Strafdrohungen des Bundesrechts, soweit sie durch dieses Gesetz nicht besonders geändert werden. Ist für Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen als Strafe Zuchthaus, Gefängnis oder Haft angedroht, so tritt nach den Artt. 4, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 an die Stelle dieser Strafen Freiheitsstrafe. Ist Zuchthaus, Gefängnis oder Haft mit einem besonderen Mindest- oder Höchstmaß angedroht, so gilt nach den Artt. 5 Abs. 4, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 dieses Mindest- oder Höchstmaß auch für die Freiheitsstrafe. Der Wortlaut des § 106 UrhG wurde dadurch nicht im Weg der formellen Derogation geändert, sondern nur im Weg der materiellen Derogation überlagert. In die Rechtsfolge ist anstelle der Strafart „Gefängnis“ die Strafart „Freiheitsstrafe“ hineinzulesen. Dazu müssen beide Vorschriftenkomplexe auf Dauer nebeneinander angewendet werden.

Durch die Artt. 144 Nr. 1, 326 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650) wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1975 angeordnet, in § 106 UrhG werde das Wort „vorsätzlich“ gestrichen und würden die Worte „Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr“ durch die Worte „Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe“ ersetzt. Die letztgenannte Ersetzungsanordnung ging dabei streng genommen ins Leere, weil § 106 UrhG einen Wortlaut „Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr“ gar nicht enthält. Sinngemäß wird man die Artt. 144 Nr. 1, 326 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. März 1974 nach dem strafrechtlichen Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB, in dessen Anwendungsbereich wir uns hier befinden, nicht anwenden können.

Mit den Artt. 2 Nr. 10 Buchst. a, 14 des Gesetzes zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7. März 1990 (BGBl. I 1990 S. 422—433) wurde geltend ab dem 1. Juli 1990 weiter bestimmt, dass in § 106 UrhG die Worte „Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr“ durch die Worte „Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren“ ersetzt werden. Diese Bestimmung ging erst recht ins Leere.

Es ist deshalb davon auszugehen, dass § 106 Abs. 1 UrhG heute folgenden Wortlaut hat:

„Wer in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk oder eine Bearbeitung oder Umgestaltung eines Werkes vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft.“

Die vom Gesetzgeber eigentlich gewünschte Rechtsfolge ergibt sich sinngemäß erst aus einer Gesamtschau der §§ 106, 143 Abs. 2 UrhG, der Artt. 3, 4, 5 Abs. 4, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969, der Artt. 144 Nr. 1, 326 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. März 1974 und der Artt. 2 Nr. 10 Buchst. a, 14 des Gesetzes vom 7. März 1990. Das ist für den Normadressaten nach der unserer Rechtsordnung inhärenten Fiktion der Erkennbarkeit des Rechts gemäß dem Gebot der Normenklarheit der Artt. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG aber nicht mehr bestimmt genug (näher dazu Thomas Fuchs, Die Nichtigkeit weiter Teile des Strafgesetzbuchs, S. 21—23). Die genannten Vorschriften sind folglich im Ergebnis verfassungswidrig und nichtig.

Es gibt damit gar kein Vergehen der unerlaubten Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke. Das von der Filmbranche vermisste Unrechtsbewusstsein fehlt den „Verbrauchern“ demnach zu Recht.

Nachtrag: Da scheine ich ja einen Nerv getroffen zu haben. Auf YouTube ist inzwischen ein Video zu meinem Beitrag erschienen.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/182

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