De legibus-Blog

2. Januar 2012

Die Wirklichkeit als Rechtsfrage

Oliver García

Schon 2003 formulierten die Bundesverfassungsrichter Sommer und Lübbe-Wolff folgenden Merksatz für eine eigentlich selbstverständliche Folgerung aus dem Rechtsstaatsprinzip:

Der Rechtsstaat kennt keine von Rechts wegen jeder Widerlegung entzogenen Annahmen über die Wirklichkeit

Mit ihm wiesen sie darauf hin, daß für die Frage, ob in Indien gefoltert wird, ein Blick in den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag keinen echten Erkenntnisgewinn bringt (BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2003 – 2 BvR 685/03).

Ob die Richter am EuGH diesen Merksatz – nennen wir ihn die „Sommer/Lübbe-Wolff’sche Formel“ – kannten, als es darum ging, Annahmen des europäischen Asylsystem mit der griechischen Asylwirklichkeit abzugleichen, ist nicht bekannt. Jedenfalls ließen sie sich in ihrer Entscheidung von dem selben Prinzip leiten und urteilten am 21. Dezember 2011 (C-411/10):

Das Unionsrecht steht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.

Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, daß sich die Sommer/Lübbe-Wolff’sche Formel auch bis zum Bundesverwaltungsgericht durchspricht, das bislang in heiliger Unbekümmertheit davon ausgeht, daß der Gesetzgeber eine unwiderlegliche Vermutung darüber aufstellen kann, wann jemand ein Hooligan ist.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/1860

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