Das Bundesverfassungsgericht beschloss am 23. Juni 2010, der Untreuetatbestand des § 266 Abs. 1 StGB sei mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08). Die Vorschrift des § 266 Abs. 1 StGB laute:
„Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Damit ging das Bundesverfassungsgericht, das die Gesetzesgeschichte vermeintlich detailliert nachzeichnet, von falschen Tatsachen aus. Die heute geltende Fassung beruht auf den Artt. I Nr. 18, IV Abs. 2 S. 1 des Gesetzes zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933 (RGBl. I 1933 S. 295—298), die am 1. Juni 1933 wie folgt in Kraft trat:
„Wer vorsätzlich die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird wegen Untreue mit Gefängnis und mit Geldstrafe bestraft.“
Seitdem wurde der Wortlaut der Vorschrift nur noch durch die Artt. 19 Nr. 138 Buchst. b, 326 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650) geändert. Mit Wirkung zum 1. Januar 1975 wurden nämlich die Wörter „vorsätzlich“ und „wegen Untreue“ gestrichen:
„Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Gefängnis und mit Geldstrafe bestraft.“
Wie kommt das Bundesverfassungsgericht nun zu der Behauptung, die angedrohte Rechtsfolge bestehe nicht in „Gefängnis und […] Geldstrafe“, sondern in „Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder […] Geldstrafe“? Das Gericht verweist insoweit lediglich auf die Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I 1998 S. 3322—3410). Das ist schon deshalb falsch, weil Bekanntmachungen die Rechtslage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unberührt lassen.
Durch die Artt. 3, 4, 5 Abs. 3, 105 Nr. 2 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 1969 S. 645—682) wurde die Rechtsfolge „Gefängnis und […] Geldstrafe“ mit Wirkung zum 1. April 1970 im Weg der materiellen Derogation durch die Rechtsfolge Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren „und […] Geldstrafe“ überlagert, also ohne den Wortlaut zu ändern. Die Vorschriften des zweiten Abschnitts des Gesetzes vom 25. Juni 1969 gelten nach den Artt. 3, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 für die Strafdrohungen des Bundesrechts, soweit sie durch dieses Gesetz nicht besonders geändert werden. Ist für Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen als Strafe Zuchthaus, Gefängnis oder Haft angedroht, so tritt nach den Artt. 4, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 an die Stelle dieser Strafen Freiheitsstrafe. Ist Gefängnis oder Haft ohne besonderes Höchstmaß angedroht, so beträgt nach den Artt. 5 Abs. 3, 105 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1969 das Höchstmaß der Freiheitsstrafe bei Gefängnis fünf Jahre und bei Haft sechs Wochen. Daraus ergibt sich keine Wortlautänderung. In der Bekanntmachung vom 1. September 1969 (BGBl. I 1969 S. 1445—1501) wurde der Wortlaut gleichwohl sinngemäß angepasst, und das auch noch mehr als ein halbes Jahr vor Inkrafttreten.
Aufgrund der Artt. 10 Abs. 1, 12 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 326 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650) wurde die gedachte Rechtsfolge Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren „und […] Geldstrafe“ geltend ab dem 1. Januar 1975 ein weiteres Mal lediglich materiell durch die Rechtsfolge Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder „[…] Geldstrafe“ derogiert. Die Vorschriften des zweiten Abschnitts des Gesetzes vom 2. März 1974 gelten nach den Artt. 10 Abs. 1, 326 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. März 1974 für die Strafvorschriften des Bundesrechts, soweit sie nicht durch Gesetz besonders geändert werden. Ist Geldstrafe neben Freiheitsstrafe vorgeschrieben oder zugelassen, so entfällt nach den Artt. 12 Abs. 3, 326 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. März 1974 diese Androhung. Droht das Gesetz neben Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß wahlweise keine Geldstrafe an, so tritt nach den Artt. 12 Abs. 1 S. 2, 326 Abs. 1 des Gesetzes vom 2. März 1974 neben die Freiheitsstrafe die wahlweise Androhung der Geldstrafe. Es ist nirgends angeordnet, dass an die Stelle des Wortes „und“ das Wort „oder“ trete. Auch diese bloße Wortlautüberlagerung wurde sinngemäß bekannt gemacht, nämlich in der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975 (BGBl. I 1975 S. 1—79).
Wer wegen Untreue bestrafen will, muss folglich § 266 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 2. März 1974, die Artt. 3, 4, 5 Abs. 3, 105 Nr. 2 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts und die Artt. 10 Abs. 1, 12 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 326 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch anwenden. Erscheint das nicht ein wenig kompliziert? Immerhin muss derjenige, der bestraft werden soll, drei in der bundesdeutschen Rechtsordnung völlig verstreut liegende Normenkomplexe, deren sachlicher Zusammenhang sich nicht so ohne Weiteres erschließt, als Maßstab für sein Handeln erkennen. Die Fiktion, mit der unsere Rechtsordnung arbeitet, das Gesetz müsse für den Normadressaten erkennbar sein, ist an dieser höchst fragmentierten Stelle gesprengt. Die wahren Zusammenhänge erkennen nur noch Experten. Nachdem an dieser Stelle selbst das Bundesverfassungsgericht versagte, verbleibe wohl nur noch ich als „Experte“. Tatsache ist, dass eine Rechtsfolge „Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder […] Geldstrafe“ nicht in § 266 StGB (auch die Fassung bei dejure.org ist falsch) bestimmt ist. Dies verstößt nach den wiederum vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Mäßstäben aber gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG.
Der Untreuetatbestand ist damit, ebenso wie weitere über 100 Vorschriften des Strafgesetzbuchs (siehe „Die Nichtigkeit weiter Teile des Strafgesetzbuchs„), sehr wohl verfassungswidrig und nichtig. Das will, wenn es nicht um fantasievolle Auslegung, sondern um trockene Konsolidierung geht, nur keiner (ein-) sehen, weil es zu kompliziert ist (siehe Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871. Historisch-synoptische Edition. 1871—2009). Die entscheidenden Änderungsgesetze überging das Bundesverfassungsgericht bei seinem geschichtlichen Abriss jedenfalls einfach durch einen Verweis auf den Leipziger Kommentar.