Die Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2012 sowie zahlreiche andere Medien berichten unter Berufung auf eine im Auftrag des BVerfG durchgeführte Studie des Düsseldorfer Professors Karsten Altenhain davon, dass nach Einschätzung der Mehrheit der in dieser Studie befragten Richter jeder zweite „Deal“ in Strafverfahren gegen die Strafprozessordnung verstoße.
Auch wenn die Grundlage der Studie – gut 330 Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte wurden befragt – noch nicht in Einzelheiten bekannt und insbesondere zu fragen ist, wie viele der Teilnehmer Richter waren, wie deren Auswahl erfolgte und ob es sich dann letztlich um valide Ergebnisse handelt, fühlen sich viele Strafverteidiger in ihrer praktischen Erfahrung bestätigt: Es wird gedealt, aber oftmals nicht nach den Regeln der Strafprozessordnung.
Die Berichterstattung beschreibt das Ergebnis der Studie mit Ausdrücken wie „Viele Richter kungeln am Strafrecht vorbei“ (SZ), „zweifelhaften Absprachen“ (Stern) oder „Der kurze Prozess kommt vor Gericht“ (ZDF). Je nach Ausrichtung wird entweder die Gefahr der Zwei-Klassen-Justiz durch ungerecht niedrige Strafen beim Deal oder die Gefahr von falschen Geständnissen durch den Druck, sich vor dem Einstieg in die Beweisaufnahme zu verständigen, hervorgehoben.
Erstaunlicherweise wird die Tatsache, dass die Studie die bewusste Missachtung gesetzlicher Regeln durch Richter dokumentiert, verharmlosend, beschönigend und anscheinend mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis genommen, aber nicht vertiefend thematisiert. Dabei hätte gerade diese Tatsache – unabhängig von den Rechtsproblemen der Verständigung, um die sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Woche kümmern wird (2 BvR 2628/10 u.a.) – sorgfältiges Hinsehen und kritische Nachfrage verdient.
Dass Richter an Recht und Gesetz gebunden sind, verleiht dem Machtmonopol des Staates seine Legitimität. Diese Bindung ist nicht disponibel, auch nicht für den noch so guten Zweck (Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege) oder zur Abwendung noch so großer Überlastung. In dem Augenblick, in dem Richter sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen, um dem vermeintlich wichtigeren Ziel zu dienen, schleicht sich ein, was dem Rechtsstaat fremd ist: Nämlich die Maxime, dass der Zweck die Mittel heilige.
Hierin liegt ein Skandal, der das gesamte Justizsystem zu erschüttern in der Lage ist. Ist es legitim, dass ein Richter unter bewusster Missachtung gesetzlicher Regeln einem Angeklagten vorwirft, die gesellschaftlichen Regeln missachtet und einen Straftatbestand verwirklicht zu haben und ihn dann verurteilt? Wer bestimmt, welcher Rechtsbruch „gut“ und damit folgenlos und welcher „schlecht“ und damit strafwürdig ist? Wer oder was kontrolliert dann noch die Macht der Richter?
Nun mag man einwenden, dass die Studie allein nicht den Untergang des Abendlandes oder unseres Justizsystems belegt. Das ist sicherlich richtig. Hinzu kommen jedoch weitere Beobachtungen, die Strafverteidiger in den verschiedenen Verfahren machen. Wenn am Bundesgerichtshof in Revisionsverfahren formellen Verfahrensrügen nur äußerst ungern der rechtliche Erfolg zugebilligt wird, um „Ölflecken“ (so RiBGH a.D. Brause in einer Fortbildungsveranstaltung des AK „Psychologie im Strafverfahren“ am 3. November 2012), also die Gefahr der Nutzung der rechtlichen Argumentation durch weitere Revisionsführer, oder die Notwendigkeit der Anrufung des Großen Senats zu vermeiden – nicht etwa, weil die Rüge rechtlich ohne Erfolg wäre – oder wenn in Revisionsverfahren die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale der „Einstimmigkeit“ und „Offensichtlichkeit“ in Beschlussverwerfungen contra legem angewendet werden (vgl. hierzu Rosenau, ZIS 2012, 195; Paeffgen/Wasserburg GA 2012, 535 ff.; Fischer/Krehl, StV 2012, 550), gehört dies zum oben genannten Problembereich. Wenn durch den 1. Strafsenat die Umgehung des Verbots des Rechtsmittelverzichts nach einer Verfahrensabsprache durch Einlegung des Rechtsmittels und dessen Rücknahme innerhalb kürzester Zeit unsanktioniert bleibt (Beschluß vom 14. April 2010 – 1 StR 64/10), mag das gewünschte Ergebnis erzielt worden sein, aber es ist mehr als nur ein kreativer Umgang mit Recht. Wenn im Revisionsverfahren nach der Möglichkeit gesucht wird, ein tatrichterliches Ergebnis zu halten, weil der Revisionsrichter weiß, dass „es passt“, funktioniert das Rechtsmittelsystem nicht mehr.
Das Augenzwinkern, die Freude über die kreativen Ideen im Umgang mit gesetzlichen Regeln, die missachtet werden (dazu Fischer, ZRP 2010, 249; ders. im SPIEGEL-Interview), wirft die Frage auf, ob überhaupt kein Unrechtsbewusstsein besteht oder ob durch die Wichtigkeit der Tätigkeit, durch das Hehre der eigenen Ziele sich die Legitimität des Handels aus dem Zweck ergibt. Wenn dem so wäre, wäre das Ergebnis der Studie von Altenhain nur ein kleiner Ausschnitt eines Systems, das eine entscheidende Fehlentwicklung genommen hat. Dann helfen uns keine Verharmlosungen, keine niedliche Bemäntelung von Rechtsbrüchen als „kungeln“, sondern dann hilft nur die Offenlegung der Fehlentwicklung.
Hierzu gehört die Offenlegung der Beiträge der Richter ebenso wie die Beiträge von Strafverteidigern, die an den Fehlentwicklungen mitwirken.