Als Jurist muss man nicht alles wissen, sondern nur, wo es steht. Das ist bei Gesetzen, die für den Rechtsanwender erste Erkenntnisquelle sind, inzwischen nicht mehr einfach. Den einen Text eines Gesetzes gibt es meistens nicht, denn die zunehmend um sich greifenden Änderungen des Gesetzgebers führen zu einer immer stärkeren Fragmentierung des gesamten Gesetzesbestandes (siehe das nebenstehende Diagramm). Defragmentierungen in Form konsolidierter Fassungen leiden regelmäßig an einem Mangel: Sie sind auf Aktualität getrimmt und lassen dadurch den Faktor Zeit außer Acht. Die vom Bundesministerium der Justiz öffentlich bereit gestellten Konsolidierungen halte ich für besonders untauglich, weil sie auch noch ohne Angaben zum Geltungszeitraum auskommen wollen. Ereignete sich der zu beurteilende Sachverhalt – wie regelmäßig – zu einer anderen Zeit als der in der Konsolidierung eingefangene Moment, wird es heikel.
Jeder Jurist kennt deshalb das mulmige Gefühl, das sich spätestens dann einstellt, wenn zur Lösung eines Problems eine ältere, aus einem Verkündungsblatt zu beschaffende Gesetzesfassung herangezogen werden muss: Lege ich meiner Arbeit den richtigen Text zugrunde? Dies herauszufinden ist bei vertretbarem Zeitaufwand ohne Kenntnis der Gesetzesfundstellen unmöglich. Auch der Fundstellennachweis des Bundesministeriums der Justiz genügt den praktischen Anforderungen nicht. Seine Basis ist die Sammlung des Bundesrechts, die außerhalb des Bundesministeriums der Justiz kein Mensch je gesehen hat. Er enthält daher auch nur die Fundstellen von nach dem 31. Dezember 1963 verkündeten Vorschriften. Soweit ministerielle Bekanntmachungen von Gesetzen vorhanden sind, können sich die Nachweise auch auf die Zeit ab der jüngsten Bekanntmachung beschränken. Außer Kraft getretene Vorschriften werden dort im folgenden Jahr gar nicht mehr aufgeführt. Damit ist auch diese Dokumentation nur auf den Augenblick ihres Abschlusses gerichtet. Das frühere Recht, das auf frühere Sachverhalte anzuwenden ist, gerät dadurch in Vergessenheit.
Diese Mängel wurden mir zwar erst vollends bewusst, als ich mit meinen historisch-synoptischen Gesetzeseditionen begann. Mit den damit verbundenen Problemen habe ich aber auch in meiner Praxis als Rechtsanwalt zu kämpfen. Ein Beispiel: § 3 Abs. 2 S. 2 SpielV 2006 (BGBl. I 2006 S. 280) regelt die Aufstellung von Geldspielgeräten innerhalb eines Betriebs. Ermächtigungsgrundlage soll § 33f Abs. 1 Nr. 1 GewO 1999 (BGBl. I 1999 S. 202) sein. In meinem Fall stellte sich die Frage, ob diese dazu ausreicht. Das Bundesverwaltungsgericht entschied zur Vorläufervorschrift nach § 3 Abs. 2 SpielV 1985 (BGBl. I 1985 S. 2245), dass diese nur deshalb durch die damalige Ermächtigungsgrundlage nach § 33f Abs. 1 Nr. 1 GewO 1978 (BGBl. I 1978 S. 97) gedeckt war, weil sie lediglich einen Maßstab zur Bestimmung der Anzahl der Spielgeräte, nicht jedoch eine Anordnung über deren Verteilung auf der zur Verfügung stehenden Fläche enthalte. Es fehle an einer Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung über die Aufstellung der Gewinnspielgeräte innerhalb eines Betriebs (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 1996 – 1 C 7.95, jurisRdnr. 11). Die Lösung des Falls hing also davon ab, ob diesbezüglich zwischen § 33f Abs. 1 Nr. 1 GewO 1999 und § 33f Abs. 1 Nr. 1 GewO 1978 ein relevanter Unterschied besteht. Im Fundstellennachweis A ist die Gewerbeordnung nur bis zur Bekanntmachung vom 22. Februar 1999 zurück nachgewiesen. Die genannte Vorschrift ist auch bei juris nur bis zum 1. April 1983 zurück erhältlich. Mit den amtlichen Hilfsmitteln war das simple Problem also nicht zu lösen. Zum Glück hatte ich damals schon mit der Datenerfassung für dieses Werk begonnen. Anhand der dadurch aufgefundenen Bekanntmachung der Gewerbeordnung stellte sich heraus, dass diesbezüglich zwischen den beiden Vorschriften kein Unterschied besteht. § 3 Abs. 2 S. 2 SpielV 2006 ist daher nichtig, was außer mir – mangels der erforderlichen Hilfsmittel – offenbar noch keiner erkannt hat. Den Fall habe ich dann allerdings aus anderen Gründen gewonnen.
Abhilfe schafft ein schon erwähntes und nun vorliegendes Nachschlagewerk, das ich gelegentlich meiner Gesetzeseditionen hergestellt habe. Darin sind die Fundstellen aller deutschen Reichs- und Bundesgesetze von 1867 bis 2011 verzeichnet, und zwar mit zugeordneten Änderungsgesetzen und nützlichen Querverweisen. Das Werk ist die Frucht einer Freizeitarbeit in den letzten drei Jahren, bei der ich wie folgt vorgegangen bin: Zunächst habe ich mir das Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1867—1870, das Reichs-Gesetzblatt 1871—1921, das Reichsgesetzblatt Teile I und II 1922—1945, das Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1945—1948, das Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947—1945, das Bundesgesetzblatt 1949—1950 und das Bundesgesetzblatt Teile I und II 1951—2011 antiquarisch beschafft. Diese Quellen stehen inzwischen auch weitgehend online zur Verfügung, so dass jedermann mit Hilfe meines Nachschlagewerks damit arbeiten kann. Dann habe ich das Rohmaterial in mühevoller Kleinarbeit ausgewertet und die gewonnenen Daten in eine rein sequenziell aufgebaute und dadurch leicht zu pflegende Datenbank eingetragen. Anschließend habe ich ein Java-Programm geschrieben, das die verstreut liegenden Daten in einem einheitlichen Datenmodell zusammenführt. Hierdurch wird der Zusammenhang zwischen den Ausgangs- und den Änderungsgesetzen hergestellt. Außerdem prüft das Programm die Daten auf Plausibilität und ermöglicht so eine Fehlerkorrektur. Dieses Datenmodell wird schließlich im LaTeX-Format ausgegeben. Das oben wiedergegebene Diagramm basiert auf diesen Daten und wurde ebenfalls mit meinem Programm hergestellt. Für die druckreife PDF-Fassung war dann nur noch ein Lauf durch den LaTeX-Compiler erforderlich.
Die ersten 20 Seiten stehen als „Leseprobe“ zur Verfügung.
Thomas Fuchs, Fundstellen deutscher Reichs- und Bundesgesetze. 1867—2012, Hardcover (mit Schutzumschlag), 662 Seiten, De legibus, 2. Auflage 2013, ISBN 9781291323917, 249,95 € brutto.