De legibus-Blog

30. Oktober 2011

Neue Rechtsnormkategorie: Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften mit Außenwirkung

Thomas Fuchs

Dem Bundesgesetzgeber ist inzwischen nichts mehr heilig. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften wurden bislang mangels Außenwirkung nicht als Rechtsnormen angesehen. Damit ist es, ohne dass es außer uns jemandem aufgefallen wäre, seit dem Jahressteuergesetz 2010 (JStG 2010) vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I 2010 S. 1768—1803) vorbei. § 22a Abs. 1 S. 1 EStG erhielt durch die Artt. 1 Nr. 18 Buchst. a Doppelbuchst. aa, 32 Abs. 1 JStG 2010 mit Wirkung zum 14. Dezember 2010 nämlich folgenden Regelungsgehalt (Unwesentliches zum besseren Verständnis verkürzt und ersetzt wiedergegeben):

Bestimmte Mitteilungspflichtige haben der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen bis zum 1. März des Jahres, welches auf das Jahr folgt, in dem einem Leistungsempfänger eine Rentenzahlung zugeflossen ist, unter Beachtung der im Bundessteuerblatt veröffentlichten Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung eine Rentenbezugsmitteilung zu übermitteln.

In der Gesetzesbegründung heißt es dazu, das Rentenbezugsmitteilungsverfahren diene dem Zweck, eine vollständige und damit verfassungsgemäße Besteuerung der Renteneinkünfte sicherzustellen. Besteuerungslücken könnten aber nur aufgedeckt werden, wenn der Finanzverwaltung auch alle Daten über Renteneinkünfte zur Verfügung stehen (Deutscher Bundestag, Drucksache 17/2823, S. 17). Anzugeben seien nicht nur bloße Zahlbeträge, sondern auch in jedem Einzelfall die Art der Besteuerung. Der Mitteilungspflichtige müsse zum Beispiel feststellen, ob die dem Steuerpflichtigen zugeflossene Leistung der Ertragsanteilsbesteuerung, der Kohortenbesteuerung oder der Besteuerung nach § 22 Nr. 5 EStG unterliege. Hierbei solle sich der Mitteilungspflichtige an der Rechtsauslegung der Finanzverwaltung orientieren. In einem Massengeschäft könne der Ermittlungsaufwand bei den Mitteilungspflichtigen und in der Finanzverwaltung nur auf diese Weise reduziert werden. Der Mitteilungspflichtige erhalte dadurch Rechtssicherheit und werde von Auslegungsfragen entlastet. Rechtsstreitigkeiten über die zutreffende Besteuerung der Altersbezüge seien zwischen der Finanzverwaltung und dem Steuerpflichtigen zu führen. Der Mitteilungspflichtige habe insoweit keine eigene Rechtsauslegungs- oder Klagebefugnis, da er von der steuerrechtlichen Beurteilung der mitzuteilenden Leistungen nicht unmittelbar betroffen sei (Deutscher Bundestag, Drucksache 17/2823, S. 16; Deutscher Bundestag, Drucksache 17/3549, S. 18).

An dieser Stelle kann die Idee aufkommen, dass die verfassungsgemäße Besteuerung also wohl mit verfassungswidrigen Mitteln herbeigeführt werden soll, und zwar in der offen erklärten Erwartung, dass sich niemand daran stören werde („wo kein Kläger, da kein Richter“). Mit der Einführung von Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung mit Außenwirkung nach § 22a Abs. 1 S. 1 EStG, die soweit ersichtlich noch nicht erlassen wurden, bewegt sich der Bundesgesetzgeber zwischen den allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach den Artt. 86 S. 1, 87 Abs. 1 S. 1 GG und den Rechtsverordnungen nach Art. 80 GG. Bei den Mitteilungspflichtigen handelt es sich beispielsweise um die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, die berufsständischen Versorgungseinrichtungen oder die Pensionskassen und -fonds. Diese stehen außerhalb der Finanzverwaltung, werden ihr im Rahmen des Rentenbezugsmitteilungsverfahrens im Grunde aber fiktiv eingegliedert. Dieser Kunstgriff kann indes nicht davon ablenken, dass es sich bei diesen Auslegungsvorschriften nicht um Verwaltungsvorschriften handelt. Ein grundgesetzlicher Typenzwang für Rechtsetzungformen wurde bislang zwar nicht anerkannt (BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74, jurisRdnr. 72) und liegt mangels abschließender Aufzählung oder auch nur systematischer Inbeziehungsetzung der vorgefundenen Formen auch nicht auf der Hand. Die formellen und materiellen Voraussetzungen des im hier gegebenen Zusammenhang an sich einschlägigen Art. 80 GG werden damit aber offensichtlich umgangen.

Die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 22a Abs. 1 S. 1 EStG ist übrigens selbstverständlich bußgeldbewehrt. Ordnungswidrig handelt nach § 50f Abs. 1 Nr. 1 Fall 2 EStG, wer vorsätzlich oder leichtfertig entgegen § 22a Abs. 1 S. 1 EStG eine Mitteilung nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig macht. Die Ordnungswidrigkeit kann nach § 50f Abs. 2 Fall 1 EStG mit einer Geldbuße bis zu 50.000 Euro geahndet werden. Kann dem Mitteilungspflichtigen, wenn er die Auslegungsvorschriften der Finanzverwaltung nicht oder nicht richtig anwendet, weil er das Gesetz selbst richtiger auslegt, dann seine Bindung an die neue Normenkategorie entgegen gehalten werden? Muss sich mit anderen Worten etwa auch das über die Ordnungswidrigkeit befindende Gericht an die Auslegungsvorschriften halten? Spätestens hier tritt also auch ein Konflikt mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 – 1 BvR 857/07, jurisRdnr. 68) zu Tage.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/1691

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