De legibus-Blog

21. November 2010

Umgekehrte Psychologie im Recht

Thomas Fuchs

Die werkvertragsrechtliche Verjährungsfrist von fünf Jahren beginnt nach § 638 Abs. 1 S. 2 BGB 1900 und nach § 634a Abs. 2 BGB 2002 „mit der Abnahme“. Wenn die Abnahme des Werks weder erklärt noch ernsthaft und endgültig verweigert wird, würde die Verjährung von Mängelrechten bei wörtlichem Verständnis dieser Vorschriften also nie beginnen. Diese Situation ist beim immateriellen Werk des Architekten gar nicht so selten. Sie gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn sich ein nicht mehr nachbesserungsfähiger Mangel des Architektenwerks im Bauwerk verwirklicht. Der Besteller kann dann nämlich – jedenfalls nach den §§ 634, 635 BGB 1900 – schon vor der Abnahme Schadensersatz verlangen.

Dieser Anspruch sollte nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der regelmäßigen Verjährungsfrist von 30 Jahren nach § 195 BGB 1900 unterliegen (BGH, Urteil vom 30. September 1999 – VII ZR 162/97). Durch die Abkürzung der regelmäßigen Verjährungsfrist nach § 195 BGB 2002 auf drei Jahre entstand ein Wertungswiderspruch. Das Architektenwerk ist bei Vereinbarung der Leistungsphasen 1—9 des Leistungsbilds „Objektplanung für Gebäude“ regelmäßig erst fünf Jahre nach Abnahme des materiellen Werks des Bauunternehmers abnahmefähig. Gewährleistungsrechte wegen eines bei der Abnahme des Bauwerks entdeckten Mangels des Architektenwerks konnten daher nun lange vor dessen Abnahmereife verjähren.

Bei dem 1989 begonnenen Bauvorhaben unserer Mandantin, das aufgrund des Verschuldens zweier nacheinander eingesetzter Architekten schief ging, stand dieser Wertungswiderspruch gleich zweifach im Raum. In beiden Fällen wurde die Abnahme des Architektenwerks über Jahre weder erklärt noch ernsthaft und endgültig verweigert. Zum Rechtsstreit rang sie sich jeweils erst nach Ablauf der abgekürzten regelmäßigen Verjährungsfrist durch. Dabei liegt der Schaden im hohen sechsstelligen Bereich. Wir begleiten die Mandantin nunmehr seit fünf Jahren durch die Instanzen und vor Kurzem ist das Thema – von dritter Seite – auch beim Bundesgerichtshof angekommen.

Dieser schlug den Knoten – wider Erwarten – in der Mitte durch und wendet § 638 Abs. 1 BGB 1900 nun tatsächlich wörtlich an. Die werkvertraglichen Gewährleistungsansprüche des Bestellers unterliegen demnach auch dann der fünfjährigen Verjährungsfrist, wenn sie vor der Abnahme entstanden sind. Diese beginnt erst zu laufen, wenn die Abnahme erfolgt oder endgültig verweigert wird. In den Fällen, in denen der Besteller weder die Abnahme verweigert noch der Unternehmer die Abnahme erzwingen kann, muss in Konsequenz der klaren gesetzlichen Regelung hingenommen werden, dass der Gewährleistungsanspruch nicht verjährt (BGH, Urteil vom 8. Juli 2010 – VII ZR 171/08).

Als Beleg dafür, dass seine frühere Rechtsprechung in der Literatur nicht in Frage gestellt worden sei, führt der Bundesgerichtshof auch einen unserer Aufsätze an (Alfons Schulze-Hagen/Thomas Fuchs, Die Verjährung des Anspruchs auf Schadensersatz beim hängen gebliebenen Architektenvertrag, Recht und Gerechtigkeit am Bau. Festschrift für Gerd Motzke zum 65. Geburtstag. München, 2006. S. 383—391). Wir hatten dort angeführt, es sei nicht zu erwarten, dass die Rechtsprechung bei der Anwendung von § 195 BGB ihren Kurs ändern werde. Mit einer deshalb entwickelten Theorie zur Verlängerung der Verjährung, die vom Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil vom 30. März 2010 – 10 U 87/09, in einem weiteren Parallelverfahren aufgegriffen wurde, erhoben wir in den Fällen der Mandantin damals gleichwohl Klage.

Eine davon wurde vom Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 9. März 2010 – 19 U 100/09, ohne Zulassung der Revision abgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde ließ der Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11. November 2010 – VII ZR 61/10, nun die Revision zu. Auch wenn unsere aus der Not geborene Theorie letztendlich nicht bestätigt wurde, hat es der Mandantin also genutzt. Wir haben den Finger in die Wunde gelegt, das Falsche gesagt und doch das Gewünschte bewirkt. Man kann das auch umgekehrte Psychologie nennen.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/238

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